Die Tatsache der Vergänglichkeit allen Seins ist der Grund, warum jeder Mensch und jedes Wesen irgendwann einmal im Leben Leiden erfährt.
Dennoch geschieht Leiden nicht zufällig, sondern ist - wie das Gesetz des Karma besagt - mit spezifischen Ursachen verknüpft, wie Gedanken und Taten, die entweder in diesem oder in vergangenen Leben
hervorgebracht wurden. Die endgültige Erlösung von den unzähligen Arten des Leidens ist gleichbedeutend mit der Befreiung aus dem tückischen Kreislauf der Existenz und der endlosen Folge von einem
Leben in das nächste. Dies wird erreicht durch das Erlernen und die Praxis des Dharma, der Lehre Buddhas.
Der Urgrund oder die letztendliche Ursache aller Ursachen liegt in der Unfähigkeit der Lebewesen, die Wahrheit der Existenz zu erfassen: Die Tatsache nämlich, dass nichts und niemand aus sich selbst heraus als eigenständiges Ich existiert. Die aus der Verdunkelung des Geistes erwachsene Illusion eines Ego führt in der Folge zu den beiden Eigenschaften Gier und Hass. Unwissenheit, Gier und Hass werden daher als die "drei grundlegenden Geistesgifte" bezeichnet, welche wiederum die Basis für die stolze Summe von 84000 weiteren falschen Überzeugungen bilden und ebenso viele Krankheitsformen nach sich ziehen.Jeder Mensch trägt Aspekte dieser drei in sich – jedoch ist es abhängig vom Persönlichkeitstyp und von der jeweiligen Lebenssituation, welches Thema im Vordergrund steht. Jeder der drei Kategorien liegt ein Mangel an etwas zugrunde. Erkennen wir die Dynamik zwischen Mangel und Kompensation, betrachten wir die entstehenden „Symptome” also als Überlebensmechanismus, können wir Gier, Hass und Verblendung in unserem Alltag besser verstehen und konstruktiver damit umgehen.
1. Gier (Unsicherheit)
Mit Hilfe der Gier versuchen wir einen inneren Mangel an Sicherheit durch das Greifen nach Objekten im Außen zu kompensieren – wir halten uns an ihnen fest, sie geben uns Halt und füllen die innere
Leere. Der Schwerpunkt der Kompensation liegt häufig auf der materiellen Ebene in Form der Anhäufung von Besitz oder übermäßigem Gebrauch von Genuss- und Suchtmitteln. Er kann sich aber auch auf der
geistigen Ebene, beispielsweise als Gier nach Anerkennung oder Wissen, manifestieren.
2. Hass (Mangel an Liebe)
Destruktive Emotionen wie Unzufriedenheit, Hass und Wut entstehen, weil man etwas, was man sich gewünscht hat, nicht bekommen hat. In den meisten Fällen ist die Ursache fehlende Liebe. Wenn wir in
unserer Kindheit keine Liebe erfahren konnten, wachsen in uns Hass und andere negative Emotionen, wie Neid auf diejenigen, die bekommen, was uns vorenthalten wurde. Wir entwickeln eine andauernde
Unzufriedenheit und können unser Leben nicht mehr unvoreingenommen genießen.
Es ist sehr schwierig, fehlende Liebe nachträglich zu ersetzen. Der Ratschlag, doch die Selbstliebe zu entwickeln, um unabhängig von der Liebe anderer zu werden, ist für viele Menschen so nicht
umsetzbar. Daher ist es hilfreich, zunächst Verständnis und Mitgefühl für unsere Eltern zu entwickeln. Warum konnten sie uns keine oder nicht genügend Liebe geben? War ihr eigenes Leben vielleicht
durch Krieg, familiäre Zerwürfnisse und Krankheit geprägt, so dass es ihnen unmöglich war, selbst Liebe zu erfahren? Wenn wir sie aus der Tiefe unseres Herzens verstehen können, vergehen der Hass und
die Wut auf unsere Eltern. Erst auf dieser Basis können wir nach und nach die Liebe für uns selbst entwickeln.
3. Verblendung (Unwissenheit)
Die Unwissenheit wird als Grundlage für die Entstehung aller anderen „Übel” gesehen. Nur im „verblendeten Geisteszustand” verbinden wir uns mit Gier und Hass und nähren sie. Ein klarer Geist erkennt
die destruktiven geistigen Faktoren, nimmt sie wahr, aber „lässt sie dann sitzen”, d.h. man identifiziert sich nicht mit ihnen und springt nicht hinein. Im geistigen Zustand der Unwissenheit blenden
wir (meist unbewusst) Faktoren, die wir nicht sehen wollen, aus. Das führt dazu, dass uns „Stücke der Realität” fehlen. Die Verblendung entsteht, weil wir zu sehr um uns selbst rotieren. Wir nehmen
uns selbst zu wichtig, fokussieren zu sehr auf unsere eigenen Schwächen oder auch Stärken und gestehen anderen nicht die gleiche Wertigkeit zu. Unsere eigene Realität ist mehr wert als die der
anderen. Deshalb ist es uns nicht möglich, das ganze Bild mit all seinen Facetten wahrzunehmen. Wir sprechen daher in der buddhistischen Psychologie auch manchmal von „Ich-Wahn”, anstelle von
Verblendung. Wir erzeugen in der Konstellation von Befriedigung oder Nicht-Befriedigung ein Gefühl von Ich-Identität, z.B. wertig oder nicht-wertig. Aber wir sind viel mehr als dieses Gefühl –
dennoch nehmen wir es als Wirklichkeit wahr und verbinden es mit der Vorstellung eines Ichs.